VR Belästigung am Arbeitsplatz

Belästigung am Arbeitsplatz: Virtual Reality schafft Empathie

Mit Virtual Reality (VR) wollen amerikanische Startups bei Mitarbeiterschulungen eindrücklicher vermitteln, was Belästigung, Diskriminierung und Rassismus bei den Betroffenen auslösen – und wie man richtig darauf reagiert.

Belästigung am Arbeitsplatz ist nach wie vor ein Problem. «Das hier ist Katrina, unsere Junior-Ingenieurin», so stellt ein Angestellter seine Kollegin einem neuen Mitarbeiter in der Kantine vor. «Von ihr wirst du noch viel sehen, lass dich nur nicht von ihrem hübschen Äusseren ablenken.» Der neue Kollege antwortet augenzwinkernd: «Ach ja? Das hoffe ich ja, dass ich dein hübsches Gesicht noch öfters sehe.» Die Situation ist unangenehm – vor allem, wenn man in der Haut der Frau steckt. Und genau das tut man.

Das Gespräch ist Teil einer Virtual Reality Simulation, bei der Mitarbeiter für sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz sensibilisiert werden sollen.

Simulationen basieren auf echten Erlebnissen am Arbeitsplatz

Zahlreiche Firmen wie das Startup Sisu VR bieten inzwischen Mitarbeiterschulungen im virtuellen Raum an. Die Angestellten stülpen sich dafür ein Headset über und verschwinden in einer fiktiven Szene am Arbeitsplatz, bei der jemand belästigt oder beleidigt wird. Mal schlüpft man in die Rolle der Betroffenen, mal in die des Täters, mal mimt man einen unbeteiligten Kollegen. Schaut man an sich herunter, sind die eigenen Arme, Kleider und die Stimme auf einmal die des besagten Charakters.

Die Szenen finden in nachgebauten Arbeitsplätzen statt: einem virtuellen Grossraumbüro, der Cafeteria, die Skyline hinter den virtuellen Fensterscheiben erinnert an San Francisco oder New York. Die Situation soll möglichst alltäglich wirken, wenn man im Einzelfall entscheiden muss: Was antwortet man den Kollegen? Sagt man nichts? Wendet man sich an die Personalabteilung?

Oft sind die Mitarbeiterschulungen überraschend altmodisch

Heute verpflichten nahezu alle grossen Firmen in den Vereinigten Staaten ihre Angestellten dazu, regelmässig Schulungen zu besuchen, wie man Belästigung, Mobbing oder Diskriminierung am Arbeitsplatz erkennt und dagegen vorgeht. Einst fanden diese Trainings mit Lehrbüchern und VHS-Filmen statt, dann kamen Power-Point-Präsentationen und Videoclips hinzu. Doch selbst im Jahr 2022 sind solche Schulungen oft überraschend altmodisch. Die Multiple-Choice-Fragen, welche die Angestellten zum Zuhören zwingen sollen, könne man oft beantworten, ohne wirklich aufzupassen, erzählen Angestellte.

«Die meisten Angestellten mögen Mitarbeiterschulungen nicht», sagt die Gründerin von Sisu VR, Jocelyn Tan, im Gespräch, «wir wollten das Feld revolutionieren.» Alle Fallbeispiele in den virtuellen Schulungen basieren auf reellen Erlebnissen von Frauen im Arbeitsalltag, welche Tan in Interviews zusammengetragen hat: sexistische Sprüche über das Aussehen einer Kollegin, unangebrachte Einladungen für die Zeit nach dem Feierabend, wüste E-Mails, Versuche körperlicher Annäherung. Die #MeToo-Bewegung habe sie zu der Firmenidee inspiriert, sagt Tan, eine ausgebildete Ingenieurin im Silicon Valley.

Virtual Reality soll Empathie vermitteln

VR soll niemanden anprangern, sondern den Mitarbeitern Empathie vermitteln, indem sie die Arbeitswelt durch die Augen anderer erleben. Keine andere Schulungsmethode sei so gut wie VR darin, jemandem das Gefühl zu geben, eine fiktive Situation wirklich zu erleben, sagt Morgan Mercer, Gründerin des Startups Vantage Point aus Los Angeles. Ähnlich wie bei Sisu VR schlüpfen die Mitarbeiter auch in den Schulungen von Vantage Point zunächst in ein VR-Headset und damit in die Rolle des Opfers, des «Täters» oder eines unbeteiligten Beobachters; wobei die Situationen hier von Schauspielern und nicht von Avataren nachgestellt werden. «Wir glauben, dass diese Themen zu wichtig sind, um anhand von niedlich animierten Avataren vermittelt zu werden», sagt Mercer. Anschliessend diskutieren die Angestellten ihre Eindrücke in gemeinsamer Runde und setzen Ziele fest, wie sie das Gelernte auf den Arbeitsalltag übertragen können. Das Training wird alle paar Monate wiederholt.

Vantage Point hat inzwischen 4,25 Millionen Dollar an Investorengeldern aufgenommen, ist in 30 Ländern aktiv und zählt grosse Firmen – auch aus der Schweiz – zu seinen Kunden. Die Firma bietet auch Simulationen an, welche die Mitarbeiter für Diskriminierungen aufgrund der Ethnizität oder Behinderung sensibilisieren sollen.

Auch bei dem Startup Praxis Labs schlüpfen Mitarbeiter in die Haut von animierten Avataren, ihre Antworten müssen sie allerdings nicht nur mit dem Joystick anklicken, sondern laut aussprechen. Das solle die Simulation so realitätsnah wie möglich machen, erklärt die Mitgründerin Elise Smith gegenüber der «Washington Post». «Indem wir Möglichkeiten schaffen, in heiklen Situationen zu intervenieren, helfen wir dabei, zu verändern, wie sich die Leute in der reellen Welt verhalten.» Uber, Ebay, Amazon und Google hätten bereits die Schulungen der in New York basierten Firma getestet. Vergangenes Jahr nahm das Startup 3,2 Millionen Dollar an Wagniskapital auf.

Die Gefahr besteht, ein Trauma wieder aufleben zu lassen

Kritiker weisen jedoch darauf hin, dass es für Mitarbeiter, die bereits einmal am Arbeitsplatz belästigt wurden, traumatisierend sein könnte, wenn sie eine ähnliche Situation in der virtuellen Realität erneut durchlaufen müssen.

Sisu VR weist auf diese Gefahr zu Beginn seiner Schulung hin. Bei Vantage Point heisst es, man habe genau deswegen Soziologen und Psychologen in die Erstellung der Simulationen einbezogen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten zudem die Möglichkeit, auch in die Rolle eines unbeteiligten Beobachters zu schlüpfen, wenn sie dies bevorzugten.

Quelle: NZZ
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