Ein interdisziplinäres Forschungsteam der HSLU lotet gemeinsam mit Schweizer Gemeinden und Unternehmen das ortsplanerische Potenzial der Augmented Reality (AR) Technologie aus.
Grosse Bauvorhaben haben es in der Schweiz mitunter schwer: Hier scheitert das geplante neue Fussballstadion an der Urne; da verzögert eine Einsprache die vom Souverän abgenickte Überbauung. Designforscher Tobias Matter von der Hochschule Luzern weiss, wieso: «Oftmals bremsen die Leute ein Projekt nicht aus Böswilligkeit, sondern weil sie sich schlecht informiert und mit ihren Anliegen nicht ernst genommen fühlen.»
Dabei kommt es zum sogenannten Beteiligungsparadoxon: In der Planungsphase, zu Beginn eines Bauprojekts, hätte die Anwohnerschaft eigentlich den grössten Spielraum, Einfluss zu nehmen. Gleichzeitig sei da aber der Abstraktionsgrad meistens noch zu hoch, erläutert Matter. «Laien fällt es oft schwer, sich anhand von technischen Plänen vorzustellen, wie Bauprojekte in der Realität aussehen werden. Eine Einsprache scheint dann oft der einzige Weg für eine Einflussnahme.»
Design- und Informatik-Forschende der HSLU arbeiten derzeit unter Tobias Matters Projektleitung daran, das Beteiligungsparadoxon aufzulösen. Das Mittel der Wahl: Augmented Reality (AR). «Solche Visualisierungen machen Abstraktes nachvollziehbar, weil sie Betrachterinnen und Betrachtern das Gefühl vermitteln, die digitalen Objekte wirklich vor sich zu sehen», erläutert Matter.
Alles ist möglich
«Je nach Phase des Projekts kann es sich bei einem Modell für Augmented Reality um eine simple Skizze oder um eine detaillierte Darstellung des geplanten Bauwerks handeln», sagt Tobias Matter. Neben der Form würde dann auch ein Eindruck der Farbe und der verwendeten Materialien geliefert. So könnte die AR Anwendung verschiedene Bauvarianten zeigen. Sogar interaktive Elemente, die sich verschieben lassen oder deren Form man verändern kann, sind möglich.
Die Forschenden der HSLU arbeiten derzeit mit mehreren Schweizer Städten, Gemeinden und Planungsbüros daran, ihre Raumplanung mithilfe von AR zu revolutionieren.
Disentis: ein neuer Dorfkern
Die Bündner Gemeinde Disentis möchte ihren Dorfkern erneuern. Dieser wird heute von einer für den regionalen Autoverkehr wichtigen Strasse durchschnitten. Das HSLU-Forschungsteam hat diese 2D-Vorschläge der beteiligten Planungsfirma in eine räumliche AR Umgebung übertragen und sie Ende April 2022 in einem ersten Workshop in Disentis vorgestellt. «Das Projekt befindet sich noch in einer sehr frühen Phase; vieles ist noch unscharf und darf visionär bleiben», sagt Projektmitarbeiter und Informatik-Forscher Dario Lanfranconi. «Daher haben wir drei verschiedene AR-Visualisierungen gestaltet.» Eine Schwarz-Weiss-Darstellung zeigt skizzenhaft die möglichen künftigen Bauvolumen auf, derweil eine zweite Fassung mit texturierten Bauwerken ins Detail geht. Eine dritte Variante stellt schliesslich mit farbigen Linien den Fluss des Auto- und Fussverkehrs dar.
Glarus: Hier spielt die Musik
In den nächsten Jahren soll auf dem ehemaligen Industrieareal Kartoni-Quartier in Glarus ein neues Quartier mit Wohn- und Gewerbeflächen entstehen. Forschende der HSLU arbeiten derzeit mit der Gemeinde an der Planung einer neuen Musikschule am Rande des Quartiers. Das AR Team unterstützt die Planerinnen und Planer der Immobilienfirma Sutter Projects bei der Gestaltung des Kartoni Parks. In einem Workshop im Mai 2022 brachten Anwohnerinnen und Anwohner ihre Gestaltungsideen ein; vom Pavillon bis zum Mehrgenerationen-Spielplatz. Die Design- und Informatik-Forschenden setzen die dabei entstandenen Skizzen und Kartonmodelle bis zum nächsten Workshop Ende Juni als AR Umgebung um. «Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhalten so ein gutes Bild davon, wie ihre Ideen im Raum wirken und ob sie funktionieren würden oder nicht», sagt Dario Lanfranconi. Die Teilnehmenden sollen ihr Feedback zudem direkt in die AR-Umgebung einfügen können.
Unterägeri: digitale Zwillinge
Ein Projekt in Unterägeri ZG möchte den Ortskern mit diversen Wohn- und Gewerbegebäuden sowie öffentlichen Plätzen aufwerten. Das Start-up Nomoko hat im Rahmen der Planungsarbeiten ein photogrammetrisches 3D-Modell des Dorfzentrums erstellt. Als Basis dafür dienen hochauflösende Fotos, die Nomoko mit einer Kameradrohne anfertigte. Kombiniert man das Modell mit Informationen zur Lärmbelastung oder Immobilienpreisen im Quartier, entsteht daraus ein sogenannter digitaler Zwilling. Das HSLU-Team lotet aus, wie sich solche digitalen Zwillinge mit AR verknüpfen lässt. Ziel ist, die komplexen Informationen aus dem digitalen Zwilling laienverständlich in AR zu visualisieren. Betrachterinnen und Betrachter sollen in dieser AR Umgebung sogar eigene Gebäude modular bauen, um so eigenständig unterschiedliche Varianten eines Bauprojekts gestalten und diskutieren zu können. Zu Testzwecken hat Nomoko kürzlich einen digitalen Zwilling des Hochschulstandorts 745 Viscosistadt in Luzern-Emmenbrücke erstellt. Dieses 3D-Modell kommt nun auch in der Lehre zum Einsatz.
Luzern: Innosuisse-Projekt in Planung
2021 erforschte Tobias Matters Team im Rahmen zweier Vorprojekte, wie Augmented Reality in der Raumplanung eingesetzt werden kann. Als Fallbeispiele dienten die Gestaltung des Emmenparks in Luzern-Emmenbrücke und die Neugestaltung der Luzerner Bahnhofstrasse. In einer weiteren Arbeit wurde der Einsatz von Klängen in AR untersucht. Die Forschenden haben die Erkenntnisse aus diesen Arbeiten zusammen mit dem Planungsbüro Planteam S AG, dem Lärmschutzspezialisten SINUS AG und der Stadt Luzern zu einem grossen Innosuisse-Projekt gebündelt. Eines der darin untersuchten Planungsvorhaben wird die Aufwertung der Tribschenstrasse in Luzern sein.
Mehr Demokratie in der Raumplanung wagen
Tobias Matters Team vereint das Know-how aus der Forschungsgruppe Visual Narrative, die sich auf die Vermittlung von Inhalten in digitalen und mobilen Medien fokussiert, und vom Immersive Realities Research Lab. Das Lab erforscht Anwendungsmöglichkeiten von Augmented und Virtual Reality. Punktuell liefern zudem Forschende der HSLU-Departemente Technik & Architektur, Soziale Arbeit und Musik ihre Expertisen. Die Projekte von Matters Team laufen im Rahmen des Interdisziplinären Themenclusters (ITC) Raum und Gesellschaft. Mit den ITCs bündelt die Hochschule Luzern Expertisen von Forschenden über die Departementsgrenzen hinweg.
Quelle: It-Markt / Youtube