Virtual Reality Brille statt Besuch im Theater: Immer mehr Bühnen erproben neue digitale Möglichkeiten für ihre Inszenierungen – auch in der Schweiz.
Goethes «Erlkönig» ist die neueste Produktion des Figurentheaters Zwickau in Deutschland, doch zur Premiere wird kein einziger Puppenspieler auf der Bühne stehen.
Erstmals hat das kleine Team ein Stück in die Virtuelle Realität (VR) verlagert. Den Gästen wird dazu in einem Hörsaal VR Brillen verpasst, die sie optisch auf eine Lichtung katapultieren. Um sie herum begegnen ihnen dann scheinbar zum Greifen nah Vater und Sohn, aber auch schaurig schöne Tiergestalten aus Zweigen und Knochen. «Das ist für uns ein Abenteuer», sagt Direktorin Monika Gerboc. «Wir hoffen, so neue Publikumsgruppen fürs zeitgenössische Figurentheater zu gewinnen.»
Wie in Zwickau loten immer mehr Theater künstlerisch Möglichkeiten des Digitalen aus und erschliessen sich so neue Räume, wie auch unsere Berichterstattung zeigt. Dabei geht es längst nicht mehr nur darum, konventionelle Produktionen im Internet zu streamen, wie es viele Bühnen zu Beginn der Corona-Pandemie getan haben. Vielmehr werden Stücke speziell fürs Digitale geschaffen und neue Erzählweisen ausprobiert.
Digitalisierung schafft neue Möglichkeiten
Das Inszenieren mit digitalen Mitteln habe einen unglaublichen Schub bekommen, konstatiert der Präsident des Deutschen Bühnenvereins, Carsten Brosda. Die Digitalisierung schaffe neue Möglichkeiten, das Publikum zu erreichen und anzusprechen, ist der Hamburger Kultursenator überzeugt. «Zum anderen entstehen auch neue künstlerische Ausdrucksformen.» Das digitale Theater könne das klassische Theater ergänzen, aber auch ein ganz neues Theatererlebnis schaffen.
Ein Beispiel sind hybride Produktionen, bei denen neben dem Geschehen auf der Bühne die Zuschauer im Saal für einzelne Szenen VR-Brillen aufsetzen wie in der Oper «Orfeo ed Euridice« des Staatstheaters Augsburg. Ballette, Konzerte und Theaterstücke werden aber auch komplett virtuell in 360-Grad-Perspektive geboten wie beim Zwickauer «Erlkönig». Mit einer VR Brille, die mit dem Ticket leihweise per Post bestellt werden kann, können sich die Zuschauer die Stücke zu Hause ansehen oder im Unterricht in der Schule. Andere Geschichten werden live im Internet erzählt wie bei der Adaption von Goethes «Werther» des Kollektivs «punktlive».
Erprobt werden aber auch interaktive Formate, bei denen Zuschauer sogar auf den Fortgang des Geschehens Einfluss nehmen können. Oder Publikum und Schauspieler begegnen sich gänzlich im kollektiven virtuellen Raum, dem sogenannten Metaversum, wie beim Elektrotheater.
«Alle Theater werden sich der digitalen Transformation stellen müssen», betont der Direktor der Dortmunder Akademie für Theater und Digitalität Marcus Lobbes. Diese Entwicklung habe schon vor der Corona-Pandemie begonnen. «Wir werden seit zwei Jahren von Anfragen überrannt.»
Digitalen Wandel aktiv gestalten auch in der Schweiz
Erst voriges Jahr hat sich das Theaternetzwerk «Digital» gegründet, dem Bühnen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich und der Schweiz angehören. So sind das Theater Chur und das Kleintheater Luzern mit von der Partie.
«Die digitalen Möglichkeiten ersetzen das Live-Erlebnis einer Theateraufführung nie ganz. Sie erweitern aber unsere Wahrnehmung von Theater, unser Verständnis vom Leben und unserer Realitäten. Sie sprengen unsere dunklen Probe- und Aufführungsräume und ermöglichen gerade hier am Theater Chur im weitläufigen Graubünden eine viel breitere kulturelle Teilhabe in allen Regionen und Sprachen des Kantons» meint Roman Weishaupt, Direktion Theater Chur. Über eine Produktion haben wir bereits berichtet.
Wie sich das Kleintheater Luzern im letzten Jahr mit VR beschäftigt lesen Sie in unserem Beitrag.
Das Theaternetztwerk «Digital»will den digitalen Wandel aktiv und mit den Mitteln der Kunst gestalten: «Wir möchten uns neue Spiel- und Handlungsräume erschliessen, wollen den physischen Bühnenraum ins Digitale erweitern und neue Formen der Zusammenarbeit testen», heisst es.
Das Publikum stehe solchen neuen Formaten offener gegenüber als oft angenommen, berichten Lobbes und der Augsburger Intendant André Bücker. Zunächst seien klassische Theaterabonnenten die Nutzer gewesen, schildert Bücker die Erfahrungen seines Hauses. Viele hätten das dann Kindern und Enkeln weiter empfohlen. Inzwischen würden die Angebote oft von Menschen genutzt, die vorher nie im Theater waren. Dazu präsentiert sich sein Haus inzwischen auch auf Gamer-Plattformen im Internet. Und den Theatern eröffnen sich mit dem Digitalen weit grössere Reichweiten. So kann man sich die Produktionen weltweit auf die VR Brille laden.
Quelle: donaukurier