Virtual Reality im Dienste der Psychologie

Der Aufbau unserer Umwelt folgt bestimmten Strukturen und Merkmalen, die für uns so selbstverständlich sind, dass wir uns ihrer kaum bewusst sind. Dieses „Szenenwissen” untersucht die Psychologin Prof. Melissa Lê-Hoa Võ an der Goethe-Universität — unter anderem im Virtual Reality-Labor.

In der aktuellen Ausgabe des Forschungsmagazins „Forschung Frankfurt” berichtet die Journalistin Jessica Klapp über ihren virtuellen Ausflug nach Italien und erklärt, warum wir die Milch nicht unter dem Bett suchen oder das Kissen in der Badewanne.

„Wenn wir einen bestimmten Gegenstand in einer Szene suchen, scheinen wir genaue Vorstellungen darüber entwickelt zu haben, welche Objekte wir wo suchen und finden müssen”, erklärt Melissa Võ. Bei der Erforschung dieser natürlichen Szenen interessiert sie insbesondere, wie wir unsere Umgebung wahrnehmen. Welche Gegebenheiten fallen uns besonders auf? Und an was würden wir uns später erinnern? Um das herauszufinden, setzt die Psychologin in ihrem Labor neben Hirnpotenzialmessungen auch Eye-Tracking und Virtual Reality Szenen ein.

Augenbewegungen werden erfasst„Mit Eye-Tracking messen wir, welche Teile eines Bildes vom Betrachter als interessant oder wichtig befunden werden, wie schnell der Blick auf bestimmte Objekte in Szenen fällt und wie lange der Blick dort verweilt”, erklärt Dr. Dejan Draschkow. Wegen der engen Beziehung von Augenbewegung und kognitiven Prozessen ist das Eye-Tracking von grosser Bedeutung. Mit dem mobilen System können sich die Versuchspersonen im Raum bewegen, Gegenstände suchen und mit ihnen interagieren.

Simulierte Umgebungen

Mit dem Virtual Reality-Headset wird über den Computer eine virtuelle 3D-Welt simuliert, durch die sich der Proband bewegt. Mit simulierten Umgebungen wie einer italienischen Piazza, in deren Mitte unerwartete braune Kisten schweben, prüfen die Forscher, ob die Ergebnisse, die sie auf zweidimensionalen Bildschirmen feststellen, auch in einer realitätsnahen, dreidimensionalen Umgebung gelten. Sie wollen Gesetze verstehen, mit deren Hilfe Menschen ihre Umwelt aufbauen und mit den Objekten in ihr interagieren.

Die Erforschung von Szenenwissen im Kindesalter ist eines der Felder, mit denen sich die Arbeitsgruppe sehr intensiv auseinandersetzt. Ziel des Projekts SCESAM, ist es, eventuelle kognitive Defizite wie eine Lese-Rechtschreib-Schwäche frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Mit einem mobilen Forschungslabor finden die Studien direkt vor der KiTa statt: Die Forscher zeigen den Kindern „ungrammatische” Bilder, auf denen etwa ein Schuh anstelle eines Topfes auf dem Herd steht, und beobachten die Reaktionen mithilfe einer Eye-Tracking-Kamera. Verhält sich eines unter vielen Kindern anders, interessiert sie, ob ein Zusammenhang zur sprachlichen Entwicklung und dem Aufmerksamkeitsverhalten besteht.

Erforschung des Szenenwissens hilft in vielen Bereichen

Auch Bereiche wie die Medizin ziehen Nutzen aus den Ergebnissen. So haben die Forscher Blickbewegungen von Radiologen bei der Betrachtung von Röntgenbildern gemessen und untersucht, welche Strategien sie zur Erkennung von Tumoren nutzen und mit welchem Erfolg diese Strategien einhergehen. Ebenso von Bedeutung sind die Forschungsergebnisse bei der Handgepäck-Sicherheitskontrolle an Flughäfen. Wie entscheiden Mitarbeiter, welche Gepäckstücke näher geprüft werden müssen? Warum wurde ein gefährlicher Gegenstand nicht gefunden? Hat der Kontrolleur nicht auf diesen Bereich geschaut? Oder hat er darauf geschaut, diesen Teil aber nicht für wichtig erachtet?

Schliesslich könnten auch Menschen mit Demenz von der Erforschung des Szenenwissens profitieren. Denn Võ und ihre Mitarbeiter haben herausgefunden, dass die Gedächtnisleistung für Bilder in einer Szene zunimmt, wenn die Probanden zuvor einzelne Objekte gesucht und gefunden haben. Bei einem überraschenden Gedächtnistest schnitten sie deutlich besser ab als Personen, die sich explizit Objekte merken sollten. „Dies bedeutet für uns, dass bei der visuellen Suche eine starke Auseinandersetzung mit der Szene stattfindet und sich Objekte besser einprägen”, erklärt die Psychologin.

Quelle: Win-Verlag / Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt

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